Dass im zeitgenössischen Theater das Kollektiv mehr zählt als das Individuum, dafür kann auch Andreas Kriegenburgs Inszenierung des Romanfragments »Der Prozess« von Franz Kafka als Beleg herangezogen werden, das im September 2008 an den Münchner Kammerspielen Premiere hat. Das große Drama des Josef K., der eines Morgens verhaftet wird, »ohne dass er etwas Böses getan hätte«, wie es im berühmten ersten Satz des Kafka-Werks heißt, hat Kriegenburg in den Kopf des Protagonisten verlegt. Von einem autonomen Subjekt kann bei ihm nicht die Rede sein, er erscheint vielmehr als multiple Persönlichkeit, seine sieben Gegenspieler, die ihn in der Anfangsszene verhaften, sind zugleich seine Doppelgänger, übernehmen aber auch hin und wieder, immer in der Maske K.s, die Rollen von Nebenfiguren. Kriegenburg wird in der Kritikerumfrage von »Theater heute« auf den ersten Platz gewählt, allerdings nicht für seine Regie, sondern für das Bühnenbild, ein rotierendes, aufrecht gestelltes Spielfeld in Gestalt einer riesigen Pupille – eine schlagende Metapher für das Auge des Gesetzes. Die Münchner Kammerspiele, die Frank Baumbauer nach acht Jahren als Intendant verlässt, küren die Kritiker in einem klaren Votum zum Theater des Jahres.
Nach acht höchst erfolgreichen Jahren endet mit der Spielzeit 2008/09 auch die Intendanz von Ulrich Khuon am Hamburger Thalia Theater. Mit ihm wechselt auch sein Oberspielleiter und Lieblingsregisseur Kriegenburg ans Deutsche Theater Berlin. An der Alster verabschiedet er sich mit Johann Wolfgang Goethes »Urfaust«, wobei er die Titelfigur auch schauspielerisch in einen alten, depressiven, sich nach Jugend sehnenden Gelehrten – gespielt von Katharina Matz als zänkische Alte – und einen nach Gretchen gierenden, von seiner Lust übermannten jungen Mann (Hans Löw) aufspaltet.