Von einer klassischen Konfliktdramaturgie, in der Individuen mit- und gegeneinander auf der Bühne agieren, kann bei Elfriede Jelineks Stück »Rechnitz (Der Würgeengel)«, das im November 2008 an den Münchner Kammerspielen in der Inszenierung von Jossi Wieler uraufgeführt wird, ebenso wenig die Rede sein wie bei Kroetz. Fünf exzellente Schauspieler treten hier als Boten auf, um von einem Geschehen zu berichten, zu dem es ein Pendant in der Realität gibt: In dem Ort Rechnitz im österreichischen Burgenland feierte eine Gräfin kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf ihrem Schloss ein Fest mit Nazi-Größen, darunter ihr Geliebter. Nach Mitternacht wurden an einige Gäste Gewehre ausgegeben, die damit loszogen und 180 im Ort untergebrachte jüdische Zwangsarbeiter erschossen und erschlugen. Die Boten, die sich mit ihren Berichten direkt ans Publikum wenden, geben sich einerseits als Augenzeugen aus, betonen aber andererseits, dass sie eigentlich gar nichts wüssten, fallen einander ins Wort, widersprechen einander und sind dabei von einer erschreckend guten Laune – wie Partygäste eben. »Rechnitz (Der Würgeengel)« wird in der alljährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift »Theater heute« zum Stück des Jahres gewählt, die Autorin erhält von der Preisjury der Mülheimer Theatertage zudem die Auszeichnung als Dramatikerin des Jahres.
Schon seit langem liefert Elfriede Jelinek bei den Regisseuren keine Stücke mit Dialogen mehr ab, sondern Textkonvolute ohne Zuteilung von bestimmten Abschnitten an Rollen oder Darsteller. Während Wieler das Ausgangsmaterial entschlossen zurechtgestutzt hat, geht der ebenfalls Jelinek-erfahrene Nicolas Stemann bei seiner Urinszenierung ihrer Finanzkrisenkomödie »Die Kontrakte des Kaufmanns«, die im April am Schauspiel Köln herauskommt, einen anderen Weg. Vor Vorstellungsbeginn betritt er die Bühne und erklärt, es handele sich im Folgenden nicht um eine Inszenierung, sondern um die Installation einer »Textumsetzungsmaschine«. Das Publikum solle sich auf einen drei- oder vierstündigen Abend ohne Pause gefasst machen, Getränkeholen zwischendurch sei aber erlaubt. Während auf einer elektronischen Tafel mit rückwärts ablaufender Nummernfolge von 99 bis 0 angezeigt wird, wie viele Seiten von der Textvorlage noch übrig sind, ackern 16 Schauspieler sie Satz für Satz durch, mal einzeln, mal im Chor, mal flüsternd, mal schreiend, mal singend. Dabei geht es um Geld und Gier, den Verfall der Aktienkurse, die bösen Banker und die geprellten Kleinanleger, kurz um die irrwitzige Irrationalität der Börsen- und Finanzwelt.