Leistungsstarke Motoren und aerodynamische Karosserien

Auto und Verkehr 1923:

Obwohl die deutsche Autoindustrie im Inflationsjahr schwer mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat – das Rüsselsheimer Opelwerk z. B. muss im Sommer die Produktion vorübergehend einstellen – kann sie auf der Automobilausstellung in Berlin (28. 9. – 7. 10.) mit einigen interessanten Neuentwicklungen aufwarten.

Besonders der neue große Audi-Sechszylinder 70 PS zieht mit seinem blankpolierten Chassis die Blicke der Ausstellungbesucher auf sich. Die Fachpresse ergeht sich in Lobpreisungen über dieses Meisterwerk der Audi-Ingenieure, die das Glanzstück der deutschen Automobiltechnik mit den neuen Vierradbremsen, Linkslenkung und dem auffallend ästhetisch modellierten Sechszylindermotor mit obenliegender Nockenwelle und 4,6 l Hubvolumen bei 70 PS Leistung ausgestattet haben.

Ein ebenso bewundertes Schaustück ist der mit allen technischen Raffinessen versehene Hansa-Lloyd-Reihenachtzylinder (auch unter dem Namen »Trumpf Ass« bekannt). Hansa-Lloyd präsentiert mit diesem neuentwickelten exklusiven Automodell (Prototyp) ein Spitzenerzeugnis von Weltklasse: Bei einer Drehzahl von 2500 U/min erreicht der Motor seine Maximalleistung und kommt dann auf etwa 85 PS. Die Höchstgeschwindigkeit des Hansa-Lloyd-Achtzylinders soll bei 110 bis 120 km/h liegen.

Wie die meisten der vorgestellten Modelle hat der Hansa-Lloyd-Achtzylinder eine Vierradbremse.

Für eine weitere Attraktion auf der Automobilausstellung sorgt Paul Henze, einer der erfolgreichsten deutschen Autokonstrukteure, der im Vorjahr das Konstruktionsbüro der Simson-Werke in Suhl/Thüringen übernommen hat. Simson kann gleich drei Neuentwicklungen zeigen: Das mit einem langhubigen Vierzylinder-Stoßstangenmotor (Leistung 65 PS) ausgestattete Modell F (als vollständiger Wagen ausgestellt) und zwei Ausführungen eines Zweiliter-Hochleistungsmotors (ein Einnockenwellenmotor mit einer Leistung von rund 40 PS und ein 60-PS-Doppelnockenwellenmotor). Diese neuen Typen und ihre Nachfolger laufen unter der Bezeichnung »Simson Supra«.

Die Dixi Automobilwerke AG, Eisenach/Thüringen, präsentieren eine Novität, die besonders ins Auge fällt: den Stromlinienwagen. Paul Jaray, österreichischer Luftschiff- und Flugzeugkonstrukteur, der seit 1920 die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über Aerodynamik durchführt, hat den Entwurf für den Stromlinien-Limousinenaufbau geliefert. Primär ist der Wagen (24 PS) als Werbefahrzeug zur Popularisierung der Stromlinien-Idee gedacht.

Mit dem aerodynamischen Karosseriezuschnitt vermindert sich der Luftwiderstand, so dass bei gegebener Motorleistung höhere Spitzengeschwindigkeiten und eine geringere Staubentwicklung auf den Naturstraßen erreicht werden können. Obwohl mehrere deutsche Autofirmen (Dixi, Ley, Audi und Apollo) einige Prototypen herstellen und Werbefahrten durch das Deutsche Reich organisieren, bleibt das Publikumsinteresse aus.

Die Modelle von Jaray treten in Konkurrenz zu dem bereits auf deutschen Straßen verkehrenden stromlinienförmigen Tropfenauto von Flugzeugkonstrukteur und -hersteller Edmund Rumpier, das auf der Berliner Automobil-Ausstellung 1921 Furore gemacht hat, und dem Wanderer-Sportwagen mit Stromlinien-Karosserie. Die Wanderer-Werke haben ihr Modell »abweichend von Jaray ausgebildet« und versucht, »eine harmonischere und organischere Auflösung der Gesamtform zu erreichen«. Europäische Automobilhersteller beginnen mit der Einführung rationalisierter Produktionsmethoden (Fließband), die in den Vereinigten Staaten bereits breite Anwendung finden (Henry Fords berühmtes T-Modell wird seit 1914 »am laufenden Band« gefertigt). Das erste am Fließband in Großserie hergestellte Massenauto Europas ist der Citroën Typ A (1919). Bei Opel steht die Einführung der Fließband-Fertigung unmittelbar bevor. Ab 1924 soll der geplante 4/12 PS, der wegen seiner grünen Lackierung als Laubfrosch populär wird, am Fließband hergestellt werden.

Chroniknet