Probleme am Arbeitsmarkt

Politik und Gesellschaft 1994:

Die Arbeitslosigkeit erreicht 1994 in Deutschland trotz des einsetzenden Wirtschaftsaufschwungs einen neuen Höhepunkt. Im Januar sind 4,029 Mio. Erwerbslose registriert, die höchste Zahl seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Jahresdurchschnitt sind 3,7 Mio. Deutsche arbeitslos (Quote: 9,6%), etwa 280 000 mehr als im Vorjahr. Weitere 1,6 Mio. Menschen sind durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Umschulung staatlich abgesichert. Insgesamt klafft zwischen den zur Verfügung stehenden Arbeitsplätzen (1994: 34,8 Mio.) und dem geschätzten Erwerbspersonenpotenzial – einschließlich der Arbeitslosen sowie der Personen in Fortbildung, Umschulung, Vorruhestand oder in der sog. stillen Reserve (41,8 Mio.) – eine Lücke von 7 Mio. fehlenden Stellen. 1991 waren es nur 4,6 Mio.

Auch im Ausbildungsbereich ist die Lage keineswegs rosig. Zwar erhält statistisch gesehen jeder Ausbildungswillige eine Lehrstelle, in der Realität bleiben jedoch etwa 4% der Bewerber ohne Ausbildungsplatz, weil sie keine Stelle im angestrebten Beruf finden oder im Umkreis ihres Wohnortes kein Angebot zur Verfügung steht. Insgesamt lässt die Bereitschaft zur Ausbildung in den Betrieben stark nach, nachdem es noch 1992 einen großen Überhang an Lehrstellen gegeben hatte. Vor allem im öffentlichen Dienst, in der Industrie und im Handel ist ein Rückgang zu verzeichnen, während Handwerksbetriebe ihr Angebot an Ausbildungsplätzen vergrößern. In den neuen Bundesländern findet zudem ein Großteil der Ausbildung außerbetrieblich statt; über die Hälfte der dort angebotenen Lehrstellen sind staatlich subventioniert.

Da schlüssige und konsensfähige Konzepte zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit fehlen, bleibt es bei punktuellen Maßnahmen. Eine Verbesserung erhofft sich die Bundesregierung durch die Zulassung von privaten Arbeitsvermittlern für alle Berufe und Personengruppen vom 1. August an. Erste Erfahrungen zeigen, dass hier vor allem solche Personen vermittelt werden, die in einem festen Arbeitsverhältnis stehen oder als Fachkräfte ohnehin gute Chancen haben.

Als weiteren Weg aus der Erwerbslosigkeit propagiert Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) eine Ausweitung der Teilzeitarbeit. Nach Ansicht der Bundesregierung könnten durch eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit etwa 2 Mio. neue Stellen geschaffen werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erwartet von solchen Maßnahmen einen Stellenzuwachs um 200 000 . Im Herbst 1994 startet die Daimler Benz AG ein neues Teilzeitkonzept, das die Bedürfnisse der Mitarbeiter und die Erfordernisse der Produktion unter einen Hut bringen soll. Zunächst probeweise werden die Zwei- und Dreitagewoche sowie der wöchentliche Belegschaftswechsel eingeführt. Der DGB verlangt zur Förderung der Teilzeitarbeit eine bessere soziale Absicherung der so Beschäftigten. Eine Richtlinie der Europäischen Union, in der Mindeststandards für Teilzeitbeschäftigte festgelegt werden, scheitert allerdings im Dezember am Einspruch Großbritanniens.

Als eine Folge der hohen Arbeitslosigkeit geraten in Deutschland immer mehr Menschen finanziell und sozial unter Druck. Die Zahl der Deutschen, die in relativer Armut leben, denen also weniger als die Hälfte eines durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht, liegt bei schätzungsweise 7,25 Mio., darunter sind 1,5 Mio. Kinder. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist in Deutschland seit 1980 von 1,3 Mio. auf 5 Mio. (1994) angestiegen.

Aber auch diejenigen, die über ein geregeltes Einkommen verfügen, müssen 1994 einen Kaufkraftverlust hinnehmen. Während die Tariflöhne um durchschnittlich 2,2% steigen, liegt die Inflationsrate bei 3,0%. Zudem klettert die Abgabenquote auf 43,9% (1990: 40,2%); dank Solidaritätszuschlag und Pflegeversicherung ist 1995 ein weiterer Anstieg zu erwarten.

Chroniknet