Die Sozialdemokratie kämpft mit sich selbst statt für die Arbeiter

Politik und Gesellschaft 1903:

Die Freiheit, in der Natur nach seiner Façon selig zu werden, bleibt den meisten Menschen verwehrt. Das Leben ist bestimmt vom Kampf um das tägliche Brot. Trotz Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden pro Tag reicht der Lohn eines Arbeiters oftmals nicht aus, die meist vielköpfige Familie zu ernähren. Frauen und auch Kinder sind zur Mitarbeit gezwungen. Zwar versucht der Staat auf Drängen der Lehrer und Ärzte, Kinderarbeit per Gesetz zu verhindern, doch gelingt das angesichts der verbreiteten Armut nicht. Auch Kampfmaßnahmen wie der über fünf Monate andauernde Streik der Textilarbeiter im sächsischen Crimmitschau für eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden bleiben ohne Erfolg. Die Lösung der »sozialen Frage« hat die Sozialdemokratie auf ihre Fahnen geschrieben. Durch ihr Engagement für die Benachteiligten und ihren Kampf gegen hemmungslose Ausbeutung hat die SPD eine breite Anhängerschaft gewonnen: Bei den Reichstagswahlen im Juni wird sie zweitstärkste Fraktion im deutschen Parlament – nach dem katholischen Zentrum. Nach außen hin stark, ist die Sozialdemokratie intern uneins. Auf dem Parteitag in Dresden im September wehrt sich der Parteivorsitzende August Bebel vehement dagegen, eine programmatische Abkehr von den revolutionären Prinzipien des Marxismus zu vollziehen, auch wenn sich der »Revisionismus«, d. h. der reformistische Kurs Eduard Bernsteins, in der sozialdemokratischen Praxis längst durchgesetzt hat.

Chroniknet