Delikatessen statt »Sattmacher« bei den Deutschen gefragt

Ernährung, Essen und Trinken 1955:

Nach den Entbehrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit ermöglicht der wachsende Wohlstand den Deutschen, mehr Geld für Ernährung auszugeben. Schlangestehen vor den Geschäften, Schwarzmarkthandel und Lebensmittelrationierung sind zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fast vergessen.

Die Lebensmittelbranche berichtet bereits seit Monaten über steigende Umsätze. Die angebotenen Produkte finden reißenden Absatz. Dabei werden in zunehmendem Maße auch Delikatessen verlangt. Südfrüchte, Pralinen, exotische Gewürze und raffiniert gemixte Cocktails – noch vor wenigen Jahren ein unvorstellbarer Luxus – gehören fast schon zum täglichen Speisezettel der Deutschen.

Die von vielen als bloße »Sattmacher« betrachteten Kartoffeln und Gemüsesorten sind dagegen nicht mehr so gefragt. In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht die Ansicht vor, zu einer guten und nahrhaften Mahlzeit gehöre vor allem Fleisch und eine fette Sauce. Die Mediziner betrachten diese Entwicklung mit Sorge. Sie beobachten bereits seit Monaten einen Anstieg der Herz-Kreislauf-Erkrankungen infolge von Übergewicht. Auch der deutlich gestiegene Verbrauch an stark zuckerhaltigen Limonaden ist nicht im Sinne einer ausgewogenen Ernährung. So konnte die Firma Coca-Cola den Absatz ihrer Produkte erhöhen, dagegen ist der Pro-Kopf-Verbrauch an Trinkmilch nach Jahren des Wachstums 1955 mit 118,2 l (1954: 121,9 l) erstmals rückläufig. Trotz aller Warnungen ist der Hang der Deutschen zu einer häufig maßlosen Ernährungsweise – von der Presse als »Freßwelle« bezeichnet – jedoch nicht zu stoppen.

Die Ernährungslage in der DDR ist im Gegensatz zu der in der Bundesrepublik Deutschland noch immer von Versorgungsmängeln gekennzeichnet. Grundnahrungsmittel wie z. B. Fett, Fleisch, Zucker, Milch oder Kartoffeln sind zwar billig, aber nur über Bezugskarten erhältlich. Frisches Gemüse und Südfrüchte sind nahezu gar nicht zu bekommen.

Chroniknet