Fernurlaub für viele zu teuer

Urlaub und Freizeit 1929:

ins Ausland sind auch 1929 das Vorrecht einer zahlenmäßig kleinen Schicht von Begüterten. Die breite Masse der Arbeitnehmer im Deutschen Reich muss sich mit Ausflügen in die nähere Umgebung begnügen, wobei sich insbesondere die Gliederungen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und die ihr angehörenden Organisationen um die Schaffung von Freizeitmöglichkeiten vor allem für Jugendliche bemühen. In Hamburg besteht eine Ferienkolonie auf dem Köhlbrand, wo von Mai bis September täglich bis zu 2750 Schulkinder und 250 Kleinkinder betreut werden können. Die Eltern zahlen dafür wöchentlich 3,75 RM an Kostgeld. Ähnliche Einrichtungen existieren auch in anderen Großstädten. Bei den Fernreisen macht das Meer dem Urlaub in den Bergen immer stärker Konkurrenz. Für zahlreiche Besserverdienende treten dabei zunehmend die italienischen Urlaubsmetropolen Rimini, Riccione, San Remo und der Gardasee an die Stelle der Bäder an der deutschen Nord- und Ostseeküste. Treffpunkte der internationalen Prominenz sind vor allem die französischen Badeorte Antibes, St. Tropez sowie Deauville und Biarritz, wo auch ein Besuch im Spielkasino lockt. Willkommen sind die Freunde des Roulette auch wieder im mondänen Schweizer Kurort Montreux am Genfer See, wo das Spielverbot im Kursaal durch einen Volksentscheid aufgehoben wird. Auch neue Ziele werden 1929 für den Tourismus entdeckt: Die Türkei tritt wieder als Reiseland hervor, und die Sowjetunion öffnet sich dem Fremdenverkehr. Trotz beschränkter Unterbringungsmöglichkeiten werden dort 15 000 Touristen erwartet, zehnmal so viel wie 1928. Hauptziele sind Leningrad und Moskau. Steigender Beliebtheit erfreuen sich Gesellschafts- und Studienreisen in kleinen Gruppen mit zehn bis 35 Teilnehmern in Begleitung geschulter Reiseleiter. Fahrt, Hotel und Verpflegung sind im Reisepreis eingeschlossen; der Urlauber braucht sich um organisatorische Fragen nicht mehr zu kümmern.

Das Ullstein Reisebüro bietet z. B. eine 15-tägige Schweizreise für 427 Reichsmark (RM) und eine ebenso lange Donaureise für 381 RM an. Besonders rührig auf diesem Gebiet ist auch Scherls Reisebüro in Berlin, das neben attraktiven Seereisen – z. B. eine zehntägige Reise nach London und Schottland für 150 RM – auch individuelle Pauschalreisen für Alleinfahrer offeriert, wobei der Tourist für seine Fahrten im In- und Ausland Gutscheine erwerben kann, die ihm die Gewissheit bieten, ohne Schwierigkeiten einen Platz in Flugzeug, Bahn oder Bus sowie ein Zimmer in einem Hotel zu erhalten. Für die Masse der Arbeitnehmer sind solche Reisen allerdings unerschwinglich: Im Reichsdurchschnitt kommt ein Industriearbeiter 1929 auf einen Brutto-Wochenlohn von 28,40 RM und ein Angestellter auf ein Brutto-Monatsgehalt von 207 RM. Eine 1929 veröffentlichte Untersuchung für Hamburg ergibt, dass von den durchschnittlichen Einnahmen einer Arbeiterfamilie, in der mehrere Generationen mitarbeiten, in Höhe von 3767,91 RM nur 41,68 RM für Vergnügungen und gesellige Anlässe und 43,28 RM für Erholung ausgegeben werden.

Chroniknet