Unklare Impulse aus Bonn

Politik und Gesellschaft 1999:

In welche Richtung die neue rot-grüne Bundesregierung in der Sozialpolitik steuert, bleibt im Jahr nach ihrem Amtsantritt noch ungewiss: Sie nimmt einerseits Einschnitte ins soziale Netz zurück, die ihre christlich-liberale Vorgängerin durchgesetzt hatte, beschließt aber andererseits – im Rahmen ihres Sparpakets – selbst Kürzungen im Sozialbereich. Ein wichtiger Reformanstoß kommt von außen, durch das Familienurteil des Verfassungsgerichts. Zum Jahresbeginn werden Einschränkungen beim Kündigungsschutz in Kleinbetrieben und bei der gesetzlichen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall aufgehoben – beides Änderungen, die den Staatshaushalt nicht belasten -, und die von CDU-Sozialminister Norbert Blüm ausgearbeitete Rentenreform mit einer Verlangsamung des Anstiegs der Altersbezüge wird ausgesetzt. Doch Blüms SPD-Nachfolger Walter Riester will, wie im Sommer bekannt und im Herbst mit rot-grüner Mehrheit im Bundestag beschlossen wird, seinerseits in den Jahren 2000 und 2001 die Renten nur in Höhe der Inflationsrate steigen lassen.

Wie bei der Koppelung des Anstiegs von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe an die Preissteigerung statt an die Nettolohnentwicklung, der Abschaffung der primären Arbeitslosenhilfe (an Beamte, Richter oder Soldaten, auch wenn diese keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten) und der Senkung der staatlichen Zahlungen an die Sozialkassen für Bezieher von Arbeitslosenhilfe steht auch bei dieser Renten-Entscheidung das Ziel der Haushaltskonsolidierung im Vordergrund. Andere sozialpolitische Maßnahmen der Bundesregierung sollen dazu führen, dass die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen stabil gehalten bzw. sogar gesenkt werden können.

Zusätzliche Einnahmen für die Rentenkassen erhofft sich die Bundesregierung durch die Ausweitung der Versicherungspflicht, etwa durch die Einbeziehung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und die Neuregelungen zur Scheinselbstständigkeit, wodurch Betroffene leichter zur Sozialversicherung herangezogen werden können. Allerdings wird das neue Gesetz zur Scheinselbstständigkeit nach heftigen Protesten noch im laufenden Jahr in wesentlichen Punkten zurückgenommen: Die Kriterien dafür, wann jemand als scheinselbstständig gilt, werden aufgeweicht, und den Nachweis, dass eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, müssen wieder die Sozialkassen führen; vorübergehend hatte es eine Umkehr der Beweislast gegeben.

Als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzt die neue rot-grüne Bundesregierung im Vergleich zum Kohl-Kabinett verstärkt auf aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit (BA) für Arbeitsbeschaffungs- und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die schon im Wahljahr 1998 deutlich gestiegen waren, werden 1999 weiter erhöht. Zum Jahresbeginn tritt außerdem ein von der Bundesregierung beschlossenes und von der BA sowie dem EU-Sozialfonds mit 2 Mrd. DM gefördertes Sonderprogramm in Kraft, das 100 000 erwerbslosen Jugendlichen einen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz verschaffen soll. Nach einer Anfang Oktober gezogenen Zwischenbilanz haben 180 000 Jugendliche an dem Programm teilgenommen, darunter 30 000 an einer Qualifizierungsmaßnahme und 28 000 an einer außerbetrieblichen Ausbildung. Erstmals seit 1990 ist die Zahl der Lehrstellen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Innerhalb des Bündnisses für Arbeit hatten sich die Arbeitgeber im Juli verpflichtet, 10 000 zusätzliche Lehrstellen zu schaffen. Weitere Ergebnisse der im Dezember 1998 gestarteten, von Bundeskanzler Gerhard Schröder moderierten Gesprächsrunde der Tarifparteien sind die Verpflichtung auf den Abbau von Überstunden und die Ausweitung der Altersteilzeitmöglichkeiten.

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